Tigermilch

Tigermilch

Buch & Regie: Ute Wieland

Nini (Flora Li Thiemann) und Jameelah (Emily Kusche) sind beide 14 Jahre alt, gehen zusammen zur Schule und sind seit vielen Jahren unzertrennlich als beste Freundinnen. Jameelahs irakisch-stämmiger Familie droht zwar die Abschiebung, wenn demnächst über ihren Einbürgerungsantrag entschieden wird, doch darüber machen sich die beiden momentan keine Gedanken. Denn in Berlin steht der Sommer und noch besser die Sommerferien vor der Tür, also verbringen sie ihre Tage damit, mit ihrem Lieblingsgetränk Tigermilch – einer Mischung aus Milch, Maracujasaft und Mariacron – durch die Stadt zu streifen und sich darauf vorzubereiten, ihre Unschuld zu verlieren – denn das soll im Sommer endlich geschehen. Doch dann führen sie eines Nachts einen Liebeszauber durch und werden dabei Zeuginnen eines Mordes…
Quelle: https://www.filmstarts.de/kritiken/246965.html

DE · 2017 · Laufzeit 106 Minuten · FSK 12 · Drama · Kinostart 17.08.2017

Drehbuch: Ute Wieland nach dem gleichnamigen Roman von Stefanie de Velasco
Regie: Ute Wieland
Bildgestaltung: Felix Cramer
Produktion: Akzente Film- und Fernsehproduktion
Verleih: Constantin Film Verleih

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Deutscher Drehbuchpreis 2016 ‧ Nominierung Kategorie „Bestes unverfilmtes Drehbuch“

Nordic International Film Festival 2018 – Best International Feature

          

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ZEIT ONLINE

„Tigermilch“Freiheit in Ringelnylons

Anfang der Sommerferien, Ende der Kindheit: Die Verfilmung des Romans „Tigermilch“ ist eine multikulturelle, herzergreifend gespielte Coming-of-Age-Geschichte.
MARTIN SCHWICKERT

Schulmilch. Maracujasaft. Weinbrand. „Tigermilch“ nennen Nini (Flora Li Thiemann) und Jameelah (Emily Kusche) die Mischung, die sie aus Plastikbechern mit dem Strohhalm in sich hineinschlürfen. Die Zutaten spiegeln den Daseinszustand der beiden vierzehnjährigen Mädchen wider. Die Milch steht für die Kindertage, die langsam zu Ende gehen. Der Alkohol für das Erwachsenendasein, in das sie hineinkatapultiert werden. Und der zuckersüße Fruchtsaft für die Vitalität, mit der sie ihr Teenagerleben auskosten.

In anderen Filmen sähe ein solches Setting grau und öde aus und müsste als Marker für die marginalisierte Existenz der Figuren herhalten. In Ute Wielands Tigermilch wirkt die Neubausiedlung ganz normal und im Sonnenlicht sogar ganz nett, weil sie für Nini und Jameelah ihr ganzes Leben lang ganz normal und ganz nett ausgesehen hat. Schon darin erkennt man den Willen der Regisseurin, die Welt allein aus der Sicht der Mädchen zu zeigen und didaktische Draufsichten unbedingt zu vermeiden. Damit schließt sich der Film dem Geist der Romanvorlage von Stefanie de Velasco an, die ihre multikulturelle Coming-of-Age-Geschichte aus dem Berliner Westen demonstrativ auf Augenhöhe zu ihren jugendlichen Heldinnen erzählte.

Tigermilch ist ein Roman, der Helikopter-Eltern von heranwachsenden Mädchen in den Herzinfarkt treiben könnte. Neben dem regelmäßigen Verzehr des titelgebenden Alkoholmischgetränks turnen die beiden Vierzehnjährigen mit Ringelnylons über den Strich in der Kurfürstenstraße, feiern exzessiv auf einer Party im Grunewald und werden wenige Meter von ihrer Spielplatzrutsche entfernt Zeuginnen eines Mordes.

 Das klingt nach einem vollkommen übersteuerten Jugenddrama, aber der wilde Plot fügt sich überraschend harmonisch in einen zärtlichen Realismus ein, mit dem Roman wie Film auf die innige Freundschaft der beiden Mädchen und deren soziales Umfeld blicken. Wie viele Filme dieses Genres fängt auch Tigermilch mit dem Beginn der Sommerferien an. Die Zeugnisse sind verteilt und sechs Wochen Freiheit breiten sich verlockend vor den Freundinnen aus. Die beiden kommen aus familiären Verhältnissen, in denen „in Urlaub fahren“ kein gängiges Konzept ist. Ninis Mutter (Gisela Flake) liegt den ganzen Tag auf dem Sofa und ist auf ihrer Insel aus Depression und Trash-TV kaum ansprechbar. Der Vater ist über alle Berge, der neue Freund (Heiko Pinkowski) gibt sich ein bisschen Mühe, die kleine Halbschwester nippt heimlich am Eierlikör. Ganz andere Sorgen hat Jameelah, die mit ihrer Mutter (Narges Rashidi) vor zehn Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen ist, nachdem Vater und Bruder ermordet wurden. Jameelah lernt für den Einbürgerungstest, während verschiedenfarbige Briefe der Ausländerbehörde die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis infrage stellen.

Aber all das wollen die Mädchen wenigstens einen Sommer lang vergessen und gemeinsam endlich das Projekt Defloration angehen. Jameelah ist unsterblich in Lukas (August Carter) mit den Bambi-Augen verliebt, der aus einer Welt kommt, in der man im Sommer an den Gardasee fährt und in der Schule mit abgelutschten Pfirsichkernen rechnen lernt. Nini ist der Sprayer Nico (Emil Belton) lieber, den sie schon seit dem Kindergarten als verlässlichen Kumpel kennt. Was die beiden Mädchen an Familie zu wenig haben, hat ihr gemeinsamer Freund Amir (David Ali Rashed) zu viel. Dass seine große Schwester Jasna (Luna Zimić Mijović) sich mit einem serbischen Liebhaber herumtreibt, will die bosnische Verwandtschaft nicht akzeptieren, und ihr Bruder Tarik (Alexandru Cîrneală) ist entschlossen, die Familienehre mit allen Mitteln zu verteidigen.

Die Qualität von Wielands Film liegt darin, dass sie von all dem ohne sozialkritische Ausrufezeichen erzählt, sich vom Exemplarischen fernhält und narrativ wie visuell in die Perspektive der Teenager eintaucht, für die die multikulturelle Gesellschaft längst Alltag, wenn auch sicherlich keine Idylle ist. Mit dem gemeinsam beobachteten Mord und der drohenden Abschiebung  sind es Ereignisse von außen, die die Freundschaft der beiden Mädchen auf eine harte Probe stellen und die beiden schneller als gewollt erwachsen werden lässt. Eine solche Coming-of-Age-Dramaturgie kann schnell hölzern wirken und in der stark dialogisch orientierten Romanvorlage gibt es einige Passagen, die sich dem Jugendsprachgebrauch allzu deutlich anbiedern. Aber auf der Leinwand wird das Konzept mit Leben gefüllt und das ist vor allem dem jungen Ensemble zu verdanken.

Wieland, die mit Freche Mädchen einschlägige Genre-Erfahrungen sammeln konnte, hat glücklicherweise darauf verzichtet, ältere Schauspielerinnen für die Teenagerrollen zu besetzen. Gäbe es einen Bundesfilmpreis für das beste Casting, so hätte Tigermilch ihn verdient. Das gilt nicht nur für die beiden Hauptdarstellerinnen Flora Li Thiemann und Emily Kusche, die überzeugend auf dem Grat zwischen Kindheit und Jugend entlangbalancieren, sondern auch für jede noch so kleine Nebenrolle.

David Ali Rashed etwa ist grandios als Amir, der viel zu klein ist für sein Alter, sich im Schwimmbad nicht traut, vom Zehner zu springen und am Ende zu tragischer Größe heranwächst. Oder Luna Zimić Mijović, die als Jasna in kurzen prägnanten Auftritten kraftvoll die ganze patriarchale Familienordnung durcheinanderwirbelt. Von erstaunlichem Mut ist auch die Schlusswendung, die auf Happy-End-Konventionen pfeift, den Freundinnen ein herzzerreißendes Finale beschert und gleichzeitig der bitteren politischen Realität direkt ins Auge schaut.

welt.de

Jameelah und Nini tun es

Stefanie de Velascos Roman „Tigermilch“ wirkt wie die kleine Schwester von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Nun hat Ute Wieland daraus den besten deutschen Jugendfilm seit Langem gemacht.
 „Jameelah“, so steht es in „Tigermilch“, „liebt es, Buchstaben zu vertauschen, Wörterknacken nennt sie das. Aus Luft macht sie Lust, aus Nacht nackt, Lustballons, Nacktschicht, Lustschutzkeller mit Nacktwächtern. Wir sprechen außerdem O-Sprache, Geld ist Gold, mit Filter drehen gibt’s nicht, nur mit Folter drohen.“

Jameelah ist die eine Heldin von „Tigermilch“, Stefanie de Velascos Roman über zwei pubertierende Berliner Teenager der Generation Abgestumpft, und sie kommt aus dem Irak.

Sie hat eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung und eine Eins in Deutsch, sie pendelt mit Busenfreundin Nini zwischen dem Gropiusstadtbeton und dem Kurfürstenstraßenstrich, wie einst Christiane F. zwischen Gropius und Zoo.

Mariacron und Maracuja und Milch

 „Tigermilch“ ist quasi das weibliche Komplementärstück zu dem erheblich lauter gefeierten „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Drei Jahre später erschienen und zwei Jahre später nun ebenfalls verfilmt.

„Tigermilch“ ist ein Cocktail aus Schulmilch, Maracujasaft und Mariacron. Die Milch, die steht für die letzten Tage der Kindheit. Der Weinbrand symbolisiert die ersten Tage des Erwachsenseins. Und der Saft, der ist süß wie die Lebensfreude.

Die so unbeschwert eigentlich nicht empfunden werden dürfte. Ninis Mutter verbringt ihre Tage in Trash-Trance glotzend auf dem Wohnzimmersofa, der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, die kleine Halbschwester nippt gern an Verpoorten.

Oh ja, „Tigermilch“ enthält alle Ingredienzien für ein depressionsgefährdetes deutsches Multikulti-Flüchtlings-Prekariats-Sozialdrama. Ist es aber nicht.

Regisseurin Ute Wieland hätte die Sozialwohnungsburgen betonkalt abweisend inszenieren können – obwohl Gropiusstadt nicht mehr der Problemkiez aus Christiane-F.-Zeiten ist –, aber sie taucht sie in ein freundliches, fast warmes Licht.

Am Beginn der Sommerferien

Es ist das Licht der Weltsicht ihrer Protagonistinnen, die sich überhaupt nicht als Problemfälle in einem Problembezirk sehen, sondern viel lieber planen, mit welchem Jungen sie ihre Entjungferung begehen sollen.

Jameelah und Nini stehen am Beginn der Sommerferien, wie Maik und Tschick am Beginn der Sommerferien stehen. Herrndorfs Roman ist eine mythologische Heldenreise aus Berlin ins Unbekannte, de Velascos Geschichte ein Kreisen in einer selbst imaginierten Welt.

In beiden Filmen geht es ums Erwachsenwerden. Un Nini und Jameelah werden aus ihrer Ringelsocken- und Pinkieschwur-Weltblase jäh herausgerissen. Das ist ungeheuer effektiv, weil Ute Wieland immer auf ihrer Wahrnehmungshöhe bleibt, erst auf dem Rosa ihrer Mädchenträume, später bei dem Blutrot der Realität.

Auf dem Grat zwischen Komik und Tragik

Ute Wieland ist so etwas wie die deutsche Jugendfilmspezialistin, auch in „Freche Mädchen“ geht es um (drei) 14-jährige Freundinnen mit frühem Liebeskummer, und in „Besser als nix“ um einen Bestattungsinstitutslehrling.

Die „Frechen Mädchen“ reichten über das „Gib Gas – ich will Spaß!“ nicht weit hinaus, und „Besser als nix“ stürzte des Öfteren von dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik.

„Tigermilch“ hält die Balance von Anfang bis zum Schluss, und das verdankt sich auch der Entscheidung, die beiden 14-Jährigen von 14-Jährigen spielen zu lassen (anders als in „Axolotl Overkill“, wo eine 26-Jährige eine 16-Jährige darstellte).

Erstaunlicher dramaturgischer Mut

Flora Li Thiemann und Emily Kusche als Nini und Jameelah ragen heraus. Aber der Film ist bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt.

„Tigermilch“ ist eindeutig der beste der drei Wieland-Filme, auch weil er erstaunlichen dramaturgischen Mut zeigt, bis hin zu einem Finale, das einen hochgereckten Arm mit Freundschaftsband anstelle eines Happy Ends setzt.