Jameelah ist die eine Heldin von „Tigermilch“, Stefanie de Velascos Roman über zwei pubertierende Berliner Teenager der Generation Abgestumpft, und sie kommt aus dem Irak.
Sie hat eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung und eine Eins in Deutsch, sie pendelt mit Busenfreundin Nini zwischen dem Gropiusstadtbeton und dem Kurfürstenstraßenstrich, wie einst Christiane F. zwischen Gropius und Zoo.
Mariacron und Maracuja und Milch
„Tigermilch“ ist ein Cocktail aus Schulmilch, Maracujasaft und Mariacron. Die Milch, die steht für die letzten Tage der Kindheit. Der Weinbrand symbolisiert die ersten Tage des Erwachsenseins. Und der Saft, der ist süß wie die Lebensfreude.
Die so unbeschwert eigentlich nicht empfunden werden dürfte. Ninis Mutter verbringt ihre Tage in Trash-Trance glotzend auf dem Wohnzimmersofa, der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, die kleine Halbschwester nippt gern an Verpoorten.
Oh ja, „Tigermilch“ enthält alle Ingredienzien für ein depressionsgefährdetes deutsches Multikulti-Flüchtlings-Prekariats-Sozialdrama. Ist es aber nicht.
Regisseurin Ute Wieland hätte die Sozialwohnungsburgen betonkalt abweisend inszenieren können – obwohl Gropiusstadt nicht mehr der Problemkiez aus Christiane-F.-Zeiten ist –, aber sie taucht sie in ein freundliches, fast warmes Licht.
Am Beginn der Sommerferien
Es ist das Licht der Weltsicht ihrer Protagonistinnen, die sich überhaupt nicht als Problemfälle in einem Problembezirk sehen, sondern viel lieber planen, mit welchem Jungen sie ihre Entjungferung begehen sollen.
Jameelah und Nini stehen am Beginn der Sommerferien, wie Maik und Tschick am Beginn der Sommerferien stehen. Herrndorfs Roman ist eine mythologische Heldenreise aus Berlin ins Unbekannte, de Velascos Geschichte ein Kreisen in einer selbst imaginierten Welt.
In beiden Filmen geht es ums Erwachsenwerden. Un Nini und Jameelah werden aus ihrer Ringelsocken- und Pinkieschwur-Weltblase jäh herausgerissen. Das ist ungeheuer effektiv, weil Ute Wieland immer auf ihrer Wahrnehmungshöhe bleibt, erst auf dem Rosa ihrer Mädchenträume, später bei dem Blutrot der Realität.
Auf dem Grat zwischen Komik und Tragik
Ute Wieland ist so etwas wie die deutsche Jugendfilmspezialistin, auch in „Freche Mädchen“ geht es um (drei) 14-jährige Freundinnen mit frühem Liebeskummer, und in „Besser als nix“ um einen Bestattungsinstitutslehrling.
Die „Frechen Mädchen“ reichten über das „Gib Gas – ich will Spaß!“ nicht weit hinaus, und „Besser als nix“ stürzte des Öfteren von dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik.
„Tigermilch“ hält die Balance von Anfang bis zum Schluss, und das verdankt sich auch der Entscheidung, die beiden 14-Jährigen von 14-Jährigen spielen zu lassen (anders als in „Axolotl Overkill“, wo eine 26-Jährige eine 16-Jährige darstellte).
Erstaunlicher dramaturgischer Mut
Flora Li Thiemann und Emily Kusche als Nini und Jameelah ragen heraus. Aber der Film ist bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt.
„Tigermilch“ ist eindeutig der beste der drei Wieland-Filme, auch weil er erstaunlichen dramaturgischen Mut zeigt, bis hin zu einem Finale, das einen hochgereckten Arm mit Freundschaftsband anstelle eines Happy Ends setzt.